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Das bIld zeigt eine Bühne, auf der gerade eine Jugendweihe stattfindet.

Das Recht auf Gewissensfreiheit

Eine Entscheidung für das Bekenntnis zu einer Religion war in der DDR gleichbedeutend mit einer umfassenden Ausgrenzung von beruflichen, schulischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten.

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Art. 18

der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen."

Das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert Bürgern, ihre Religion oder Weltanschauung frei zu bilden und sie ungestört auszuüben. Jeder Mensch ist auch frei, seine Gedanken und sein Gewissen zu entwickeln. Eine Formung durch Erziehung und Sozialisation ist damit nicht verboten, wohl aber der staatliche Zwang, dies nur in eine bestimmte Richtung tun zu dürfen.

Art. 39

der Verfassung der DDR garantiert: "Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und religiöse Handlungen auszuüben.Kirchen und andere Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik. Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden."

Auch die Verfassung der DDR erlaubte Religionsausübung, auch wenn diese im Gegensatz zu den Grundregeln sozialistischer Weltanschauung stand. "Religion ist Opium für das Volk". Dieses Zitat von Karl Marx bildete auch die Grundlage des Verhältnisses der SED-Führung zur Religionsausübung. Religiöse Einstellungen und Lebensweisen waren mit der sozialistischen Ideologie des SED-Staates schlecht zu vereinen. Entsprechend kritisch waren die Machthaber gegenüber dem religiösen Leben in der DDR

Eine Entscheidung für das Bekenntnis zu einer Religion war in der DDR gleichbedeutend mit einer umfassenden Ausgrenzung von beruflichen, schulischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten. Damit unterlief die DDR-Führung genau das im Menschenrecht verbriefte Verbot von staatlichem Zwang und Respekt vor der Gewissensfreiheit. Kirchliche Einrichtungen und ihre Mitarbeiter wurden zum Ziel von Überwachung, Bespitzelung und Manipulation durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS).

Ein Gruppe von Teilnehmern einer Mahnwache steht vor der Zionskirche. Sie protestieren gegen Festnahmen in der Umweltbibliothek Ende November 1987.

Fremdkörper im System

Kirchen bewahrten als einzige größere gesellschaftliche Gruppe eine gewisse Autonomie gegenüber dem SED-Staat. Doch diese Autonomie war relativ. Die SED versuchte, „Kirche im Sozialismus“ auch unter ihre Kontrolle zu bringen. In den 1950er Jahren betrieb sie daher eine massive Kampagne zur Etablierung der säkularen Jugendweihe, um den Kirchen die nachwachsenden Generationen zu entfremden. Zudem versuchte die DDR-Führung, den unabhängigen Einfluss der Kirchen so gering wie möglich zu halten. Sie stellten Fremdkörper in einem Herrschaftssystem dar, das darauf beruhte, alle Gesellschaftsbereiche politisch anzugleichen und sozialistisch auszurichten.

Die Staatsicherheit hatte dabei entscheidenden Einfluss. Gemeinsam mit dem Ministerium des Inneren überwachte sie kirchliche Aktivitäten in der DDR und erfasste Gläubige sowie die Mitarbeiter der Kirchen. Mit Hilfe der so gewonnen Informationen konnten religiöse Menschen systematisch benachteiligt werden. Jugendlichen wurden Bildungschancen verwehrt, Erwachsenen die Aufstiegschancen im Beruf, Mitarbeiter der Kirchen verhaftet. Gläubige wurden schikaniert, unter Druck gesetzt und Kirchenaustritte erzwungen.

Der massive Druck auf die Kirchen trug dazu bei, dass Kirchenvertreter Wege suchten, sich mit dem Staat zu arrangieren. Durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter (IM) im Kirchenbereich war es für die Stasi zudem möglich, Allianzen mit staatsnahen Würdenträgern zu schmieden. Die Gemeinden erreichten dadurch zwar eine Verbesserung ihrer Lage. Andererseits führten diese Anpassungsstrategien zu internen Spannungen zwischen Kirchenleitungen und Pfarrern, die die staatliche Einflussnahme missbilligten. Diese Konflikte traten beispielsweise offen zutage, als Pfarrer in den 1980er Jahren oppositionellen Gruppen Schutzräume unter dem Dach der Kirche boten.

Ziele staatlicher Eingriffe waren vor allem die evangelischen Kirchen, die in der DDR am weitesten verbreitete Glaubensgemeinschaft. Aber auch die katholische Kirche, die in einigen Regionen vertreten war, und kleinere Religionsgemeinschaften wie die Methodisten, Zeugen Jehovas, Baptisten und Juden wurden verfolgt. Dabei gab es jedoch Unterschiede. Die Zeugen Jehovas als eine Religionsgemeinschaft, die sich offen gegen die Akzeptanz jeder staatlicher Autorität ausspricht, waren besonders starken Repressionen ausgesetzt.

Das Bild zeigt eine größere Ansammlung von Menschen auf dem Alexanderplatz in Berlin. Einige davon sitzen auf einer Bank etwas abseits, der Rest gruppiert sich um einen Gitarre spielenden Mann.

Unterdrückung und Verfolgung

Die Strategien der Stasi waren vielfältig und von der politischen Großwetterlage geprägt. Vor allem in den ersten Jahren nach Gründung der DDR wurden Gläubige relativ offen unterdrückt und verfolgt. In enger Zusammenarbeit zwischen Staatsführung und Geheimpolizei wurden Mitarbeiter der Kirchen verhaftet. Auch innerhalb des Machtapparates machte die Stasi vermeintlich kirchenfreundliche Staatsdiener aus, die daraufhin ihrer Ämter enthoben und ebenfalls verhaftet wurden.

Kirchliche Jugendorganisationen standen besonders im Fokus, weil sie Konkurrenz für die staatliche "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) bedeuteten. Die Stasi hatte Anteil an der "Enttarnung" von Mitgliedern der Jungen Gemeinde als "feindliche Agenten" und ließ Anfang 1953 Hetzkampagnen gegen sie in der Presse initiieren. Junge Christen durften keine Treffen oder Veranstaltungen organisieren. Sie wurden öffentlich schikaniert und beschimpft, mitunter von Schulen verwiesen und durften nicht studieren.

 

Das Bild zeigt eine Bühne, auf der gerade eine Jugendweihge stattfindet.

Überwachung und Spaltung

Ab den 1960er Jahren änderte die SED-Führung ihre Strategie gegenüber den Kirchen. Auch die Stasi verfeinerte fortwährend ihre Methoden. Zwar sahen sich Gläubige immer wieder Repressionen ausgesetzt, seltener jedoch im Licht der Öffentlichkeit. Stattdessen versuchte die Stasi gezielt, "Prozesse der inneren Spaltung" zu fördern. Aber auch so sollten die Kirchen als gesellschaftlicher Faktor zurückgedrängt und ausgeschaltet werden.

Um umfassend über innerkirchliche Entwicklungen unterrichtet zu sein, erfasste die Staatssicherheit alle Bischöfe in der DDR in sogenannten "Operativen Personenkontrollen" (OPK). Dabei überwachte sie Betroffene sowohl am Arbeitsplatz wie auch in der Freizeit und kontrollierte ihre Post- sowie Telefonanlagen. In Einzelfällen setzte sie Wanzen ein. Einige Bischöfe arbeiteten selbst als "Inoffizielle Mitarbeiter" (IM) für die Stasi. Außerdem schleuste das MfS viele Spitzel in gehobene Positionen des Kirchendienstes ein.

Der Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter diente nicht nur der Aufklärung und Informationsbeschaffung. Er zielte auch darauf, aktiv Kirchenpolitik zu organisieren. Das Ziel: Die Autonomie der Kirchen von innen zu "zersetzen". Mit Hilfe der IM bildete die Stasi Allianzen mit staatstreuen Kirchenfunktionären. Würdenträger mit "Realitätssinn" wurden belohnt, Kritiker diskreditiert, isoliert oder aus ihren Positionen gedrängt.

Immer wieder kam es innerhalb der Gemeinden zu Spannungen zwischen "realistischen und negativen Kräften", wie es im Stasi-Jargon hieß. Die Geheimpolizei nutzte Auseinandersetzungen für sich. Kirchenpolitische Entscheidungen konnte sie in der Folge gezielt beeinflussen. Die Stasi spielte so eine koordinierende Rolle bei der Durchsetzung der staatlichen DDR-Kirchenpolitik. Gleichzeitig konnten die Gemeinden eine Verbesserung ihrer Lage erreichen.

Was nach außen als eine positive Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche dargestellt werden konnte, konterkarierte gleichwohl die Lebenswirklichkeit vieler Gläubigen. Sie waren weiter versteckten und offenen Repressionen ausgesetzt. Dennoch führte u.a. die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die internationale Friedensbewegung in den 1980er Jahren zu einer erstarkenden Opposition gegen die SED-Führung. Unter dem Dach der Kirchen ließen sich trotz der intensiven Überwachung eine Reihe unangepasster Positionen artikulieren, die über Zeit an Stärke gewannen und im Herbst 1989 die Friedliche Revolution ermöglichten.
 

Ressourcen des Stasi-Unterlagen-Archivs

Beispiele aus den Stasi-Unterlagen

Evangelischer Kirchentag in Ostberlin am 27. Juni 1987

Ab 1962 fanden in der DDR in regelmäßigen Abständen Evangelische Kirchentage statt. 1987 war Ost-Berlin Treffpunkt der Christen. Kirchliche Basisgruppen kritisierten jedoch die staatsnahe Haltung der Organisatoren. Als Gegenveranstaltung zum offiziellen Kirchentag richteten sie parallel einen "Kirchentag von unten" aus. Mit vor Ort war auch die Stasi, die das Geschehen dokumentierte.

Zeugen Jehovas im Visier der Stasi

Am 31. August 1950 wurden die Zeugen Jehovas in der DDR verboten. Seitdem war die Religionsgemeinschaft starken Repressionen ausgesetzt und dazu gezwungen, im Untergrund zu agieren. So mussten Bücher, Zeitschriften und religiöse Schriften heimlich in die DDR eingeführt werden. Das Ministerium für Staatssicherheit versuchte dies zu unterbinden und verhaftete Hunderte Zeugen Jehovas wegen "staatsfeindlicher Hetze".

Eine Möglichkeit, wie Schriften geschmuggelt werden konnten, zeigt die Bilderserie. Zeitschriften und Bücher wurden in einer Cornflakes-Packung versteckt und in einer Tasche mitgeführt.

Disziplinierungsmaßnahmen am Beispiel des Wehrersatzdienstes

Als die DDR einige Monate nach dem Mauerbau im Januar 1962 die Wehrpflicht einführte, verweigerten viele junge Männer aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe. Besonders die evangelische Kirche setzte sich zur Aufrechterhaltung der Gewissensfreiheit für einen Wehrersatzdienst ein. 1964 trat die Bausoldatenverordnung in Kraft, die eine Quadratur des Kreises war: Ein Soldat ohne Waffe und ohne Eid - ein Bausoldat. So wurde einerseits der Pflicht zum Wehrdienst genüge getan, ohne gleichzeitig eine Waffe in die Hand nehmen zu müssen.

Auch Bausoldaten waren voll in die militärische Struktur der Nationalen Volksarmee (NVA) eingebunden. Einen rein zivilen Wehrersatzdienst gab es bis zum Ende der DDR nicht. Dass es möglich war, den Wehrdienst zu verweigern, sprach sich zunächst nur langsam herum. Selbst innerhalb der Kirche machten nur wenige engagierte Pfarrer diese Option unter jungen Christen publik. Viele junge Männer wurden gegen ihr Gewissen und ihren Glauben zum Dienst an der Waffe gezwungen. Ein Maßnahmeplan der Stasi zeigt, wie Inoffizielle Mitarbeiter in kirchlichen Schlüsselpositionen für "Disziplinierung" sorgten.
 

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Die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz

Die permanente Beschneidung und staatliche Lenkung der Gedanken- und Gewissensfreiheit führte am 18. August 1976 zu einer dramatischen Reaktion eines evangelischen Pfarrers. Oskar Brüsewitz übergoss sich vor der Michaeliskirche in Zeitz in Sachsen-Anhalt mit Benzin und zündete sich an. Vier Tage später erlag er seinen schweren Verbrennungen. Sein Suizid war Ausdruck seines Protestes gegen das repressive Bildungssystem der DDR und den Einfluss des Regimes auf die Kirche, wodurch er eine freie Ausübung des Glaubens als unmöglich ansah.

Unter Mitwirkung der Stasi versuchten staatliche Stellen, das Ereignis zu verschweigen. Als jedoch Rundfunk und Fernsehen der Bundesrepublik über die Selbstverbrennung berichteten, reagierten die staatlich gelenkten DDR-Medien: Sie stellten Brüsewitz' Selbstmord als die Tat eines Psychopathen dar, der "nicht alle fünf Sinne beisammen" hatte.
 

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